Die Modellierung von Prozessen in einem „digitalen Zwilling“ hilft, Zusammenhänge und Abhängigkeiten besser zu verstehen, Optimierungspotenzial zu erkennen und Maßnahmen auf ihre Folgen zu testen, bevor sie in die Realität umgesetzt werden. Wie sich Digital Twins in der modernen Medizin einsetzen lassen, zeigt das folgende Beispiel.
Als Michael Grieves 2002 an der University of Michigan das „Ideale Konzept für Product Lifecycle Management (PLM)“ vorstellte, ahnte er wahrscheinlich nicht, welchen Siegeszug das Modell nehmen würde. Grieves beschrieb ein System, in dem eine reale Umgebung virtuell in einem digitalen Raum repräsentiert wird. Beide stehen im kontinuierlichen Austausch, jede Änderung in der Realität wird im virtuellen Abbild ebenfalls ausgeführt. Neue Prozesse können digital getestet und dann in die physische Welt übertragen werden.
Gut 20 Jahre später ist dieses Konzept unter dem Namen „Digital Twin“ (digitaler Zwilling) bekannt und weit verbreitet. Es dient unter anderem dazu, Satelliten fernzusteuern, Produktionsprozesse zu optimieren, Lücken in Lieferketten zu schließen oder sogar ganze Organisationen digital abzubilden. In der Medizin kann die Repräsentation von Organsystemen oder Stoffwechselkreisläufen in einem Digital Twin zu einem besseren Verständnis der physiologischen und pathologischen Vorgänge führen und so Therapien mit höherer Wirksamkeit und weniger Nebenwirkungen ermöglichen.
Wie dies gelingen könnte, zeigt das interdisziplinäre Forschungsprojekt des Unternehmens Ebenbuild, das in Zusammenarbeit mit Medizinern des Münchner Klinikums Rechts der Isar durchgeführt wird. Die Experten für biomechanische Simulation, Machine Learning und Software-Entwicklung arbeiten gemeinsam mit den Ärzten an einem digitalen Zwilling der menschlichen Lunge. Ziel ist es, eine individuelle Beatmungstherapie zu entwickeln, die die Erholungsrate von Patienten mit akutem Atemnotsyndrom (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) erhöht und womöglich deren Überlebenschancen verbessert.
Beatmung – Segen und Fluch zugleich
ARDS ist durch die Covid-19-Pandemie im vergangenen Jahr in den Fokus der Medizin gerückt, kommt aber beileibe nicht nur bei Patienten vor, die sich mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert haben. Andere Ursachen für das akute Atemnotsyndrom sind beispielsweise Lungenentzündungen, Unfälle oder Schockzustände. Aber auch die künstliche Beatmung selbst kann zu ARDS führen. Fast jeder sechste beatmete Patient entwickelt aufgrund der Behandlung das Syndrom. Eine häufige Ursache ist dabei, dass Beatmungsgeräte oftmals nicht individuell genug eingestellt sind und so die Lunge schädigen können. Ohne mechanische Informationen aus der Lunge ist eine geeignete Personalisierung der Beatmung sehr zeitaufwendig und in kritischen Fällen äußerst schwierig und anspruchsvoll.
Das Forschungsprojekt von Ebenbuild will diese Situation verbessern, indem es Ärzten ein individuelles Abbild, den digitalen Zwilling, der Lunge eines zu beatmenden Patienten zur Verfügung stellt. So ließe sich das Beatmungsprotokoll sehr viel besser an den jeweiligen Patienten anpassen, was die Zahl und das Ausmaß an Lungenschäden verringern könnte. Das würde nicht nur die Gesundung von ARDS-Patienten beschleunigen, sondern möglicherweise auch die Überlebenschancen steigern. Da für die Beatmung zusätzliche Krankheitskosten pro Tag von 1.000 bis 2.000 Euro anfallen, brächte die Verkürzung der Beatmungszeit auch eine finanzielle Entlastung für das Gesundheitssystem.
Mit KI zum Digital Twin der Lunge
Um den Digital Twin einer individuellen Lunge erstellen zu können, benötigen die Forscher zunächst einmal ausreichend Informationen über den Patienten. Die Erfassung der notwendigen Daten soll für Ärzte und Pflegepersonal so einfach wie möglich gehalten werden, um sie nicht mit zusätzlicher Arbeit zu belasten. Das Konzept von Ebenbuild sieht dabei vor, dass sich mittels einer Web-Anwendung direkt am Krankenbett das Hochladen der elektronische Krankenakte, CT-Scans und anderer medizinischer Bilddaten über eine verschlüsselte VPN-Verbindung (Virtual Private Network) in die Cloud-Umgebung von Ebenbuild anstoßen lässt.
Die so erfassten Bilder werden durch Inferenz mit vortrainierten KI-Modellen analysiert, welche durch die Intel-Distribution des OpenVINO-Toolkits beschleunigt wird. Für die schnelle Datenverarbeitung und Visualisierung nutzt Ebenbuild die Intel Math Kernel Library (Intel MKL) und den Intel C++ Compiler. Derzeit dauert es noch etwa 30 Minuten, bis den Ärzten ein detailliertes Bild vom Zustand der Lungenfunktion und -mechanik übermittelt werden kann. Langfristig wird eine Lösung angestrebt, die den Digital Twin der Lunge nahezu in Echtzeit direkt am Patientenbett zur Verfügung stellt.
Confidential Computing – geschützte Daten in der Cloud
Der Prototyp der Software-as-a-Service-Lösung von Ebenbuild läuft in der öffentlichen Cloud, was eine effiziente Bereitstellung bei gleichzeitig hoher Skalierbarkeit ermöglicht. Die fertige Anwendung könnte so nicht nur Universitätskliniken oder Schwerpunktkrankenhäusern, sondern jeder medizinischen Entrichtung mit beatmeten Patienten zur Verfügung stehen.
Um die sensiblen Patientendaten vor fremden Zugriffen zu schützen, setzt Ebenbuild auf Confidential Computing, das eine Vertraulichkeit entlang der gesamten Verarbeitungskette garantiert. Die Informationen sind nicht nur bei der Speicherung (Data at Rest) und der Übertragung (Data in Motion) verschlüsselt, sondern werden auch in einem besonders geschützten Bereich des Prozessors, der Enklave, ausgeführt (siehe dazu den Beitrag „Die Enklave im Rechner“). Über Befehlserweiterungen wie die Intel Software Guard Extensions (Intel SGX), die in Intel Xeon E und skalierbaren Intel Xeon Prozessoren der dritten Generation verfügbar sind, können Entwickler definieren, welche Funktionen im Code vertrauliche Daten verwenden dürfen. Bei der Ausführung dieser Programmbestandteile werden die Daten dann in die Enklave geladen und verarbeitet. „Dank Confidential Computing, das auf Intel Software Guard Extensions läuft, können wir Leistungserbringern im Gesundheitswesen versichern, dass der Datenschutz, die Vertraulichkeit und die Integrität sensibler Patientendaten gewahrt bleiben,“ sagt Dr. Kei W. Müller, CEO und Mitgründer von Ebenbuild.
Fazit: Ein erster Schritt zu einer besseren Medizin
Noch ist der von Ebenbuild erzeugte Digital Twin der Lunge ein Forschungsprojekt. Die bisher erzielten Ergebnisse sind aber ausgesprochen vielversprechend und könnten bald einen klinischen Einsatz rechtfertigen. Ebenbuild will demnächst in die klinische Erprobung gehen und bemüht sich um eine Zulassung durch die Aufsichtsbehörden. Patienten mit ARDS könnte die digitale Lunge vor schweren Schäden schützen und ihre Gesundung beschleunigen. Dank des Digital Twin von Ebenbuild haben Ärzte präzise Informationen über das Verhalten der Lunge und können Beatmungsgeräte sehr viel besser und individueller einstellen, sodass in vielen Fällen eine durch Beatmung verursachte Schädigung der Lunge vermieden werden kann.